Stolpersteinführung
„Ihr werdet bei unserem Gang durch die Stadt viele Parallelen zu eurem Roman entdecken“ prophezeit Bernd Hammerschmidt den Schülerinnen und Schülern der Klasse 7b des Hannah-Arendt-Gymnasiums, die sich am Morgen des 9. November auf dem Rathausplatz um ihn versammelt haben. „Es geschah im Nachbarhaus“ lautet der Titel des besagten Romans von Willi Fährmann, mit dem sich die Klasse im Deutschunterricht befasst hat. Darin schildert der Autor das Schicksal der jüdischen Familie Waldhoff, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in einer Kleinstadt am Rhein lebt und aufgrund von Vorurteilen, falschen Verdächtigungen und Judenhass um ihre Existenz gebracht wird. Verschiedene, zunächst subtile, dann immer offenere Formen der Ausgrenzung bis hin zu einem Brandanschlag auf das Haus führen schließlich dazu, dass die Familie den Ort verlässt und in eine größere Stadt zieht. Ein Schicksal, dass auch jüdischen Familien in Lengerich widerfahren ist.
So entstand die Idee, in Kooperation mit dem Heimatverein Lengerich an Originalschauplätzen Geschichte und Literatur erfahrbar zu machen. Hammerschmidt, der sich intensiv mit der Geschichte der Juden in Lengerich befasst hat und Leiter der „Stolpersteingruppe“ des Heimatvereins ist, ist es ein Anliegen, jüngere Generationen mit diesem Teil der Lengericher Geschichte vertraut zu machen. Dabei sei gerade das Schicksal einzelner Mitbürger für die Schüler viel eindrücklicher als eine abstrakte Zahl, so der pensionierte Pädagoge.
Anknüpfungspunkte an den Roman sind schnell gefunden: Hammerschmidt nimmt das geschichtsträchtige Datum zum Anlass, um über die Verbrennung des Albersheim‘schen Hauses während der Reichspogromnacht zu sprechen. Schlimmer als den Waldhoffs erging es der Familie Albersheim, denn im Gegensatz zum Roman fand sich in Lengerich in dieser Nacht niemand, der das Niederbrennen des Hauses verhinderte. Heute erinnern die Stolpersteine neben der großen Platane daran, dass hier einmal eine jüdische Familie gelebt hat.
Hammerschmidt schildert den Alltag jüdischer Kinder in Lengerich während der NS-Zeit. Schnell erkennen die Schüler Parallelen zur Romanfigur Sigi: Ausschluss vom Unterricht, Demütigung, Boykott von jüdischen Geschäften und schließlich der Weggang aus der vertrauten Stadt. V.a. das Schicksal der 14-jährigen Ruth Mildenberg, die mit ihrer Familie zunächst nach Essen flüchtete, dann deportiert und 1942 ermordet wurde, berührt die Siebtklässler. „Man dachte beim Lesen des Buches: Das ist weit weg von uns, am Rhein. Aber jetzt wissen wir, das gab es auch hier,“ schildert ein Schüler seine Gedanken. Andere wundern sich darüber, dass ihnen die Stolpersteine bisher nie aufgefallen seien und entdecken auf dem Nachhauseweg am Mittag noch weitere am Bodelschwinghplatz. Es sei „gut, dass darüber informiert wird“, bilanziert ein Mitschüler, „damit Geschichte nicht vergessen wird.“